Im Wartesaal der Möglichkeiten: Wie ‚Vielleicht‘ unsere Energie raubt
Im emotionalen Wartesaal der Möglichkeiten: Wie Angst vor Entscheidungen Beziehungen belastet – und warum Klarheit ein Akt der Wertschätzung ist.
Vor Kurzem hatte ich eine Verabredung mit einer Freundin. Wir hatten uns auf „nicht vor elf Uhr“ geeinigt.
Für sie hieß das: um 11 Uhr.
Für mich: irgendwann zwischen 11 und 15 Uhr.
Wir redeten aneinander vorbei, konnten es am Ende klären – doch mir fiel wieder auf, wie sehr mich solche schwammigen Absprachen ermüden, meine Zeit und die der Anderen vergeuden.
Ich merke: Es tut mir besser, wenn klar ist:
„Wir treffen uns am Dienstag um 15 Uhr.“
Dann kann jeder sagen: „Passt“ oder „Passt nicht“.
Kein Warten, kein Rätselraten, kein inneres Stand-by.
Warum sagen wir so oft „Vielleicht“ oder „Mal schauen“?
In letzter Zeit fällt mir immer mehr auf, wie oft mir Sätze wie „Vielleicht sehen wir uns“, „Eigentlich wollte ich…“ oder „Mal schauen, wohin es führt“ begegnen.
Auf den ersten Blick klingen sie offen und locker. Doch oft verbergen sie etwas anderes:
- Vermeidungsverhalten: Wer sich nicht festlegt, vermeidet Verantwortung oder mögliche Enttäuschung.
- Entscheidungsangst: Viele Menschen haben Angst, sich festzulegen, weil sie fürchten, dass sie sich falsch entscheiden und dadurch etwas verpassen. Dieses Phänomen wird auch „Fear of Missing Out“ (FOMO) genannt – die Angst, dass gleich um die nächste Ecke eine noch bessere Gelegenheit auftaucht. Deshalb halten sie alle Optionen offen, um später keine Reue zu empfinden. Paradoxerweise führt diese Haltung dazu, dass sie in einem Dauerzustand der Unverbindlichkeit verharren – und andere mit in diese Schwebe ziehen.
- Bindungstheorie: Menschen mit unsicher-vermeidender Bindung neigen oft zu unklaren Aussagen, um emotionale Nähe zu regulieren.
Entwicklungspsychologische Wurzeln
Mir wurde bewusst, wie tief solche Sätze in mir sitzen.
Schon als Kind haben mich Aussagen wie „Vielleicht nächstes Mal“ oder „Eigentlich bist du noch zu klein“ geärgert.
Dieses „nächstes Mal“ kam nie.
Und das „Eigentlich bist du noch zu klein“ war für mich wie ein Abstellgleis: Ich war da, aber nicht wirklich. Warum konnte oder wollte man mir etwas nicht sagen?
Eltern, die keine klaren Zusagen machen, geben oft unbewusst ein Muster weiter:
„Ich bekomme vielleicht, was ich will, aber ich kann mich nicht darauf verlassen.“
Diese Unsicherheit kann später im Leben wieder auftauchen – im Umgang mit Freunden, Partnern und sogar bei uns selbst.
Zeitgeist: Die Illusion der unendlichen Optionen
Wir leben in einer Zeit der permanenten Alternativen.
- Dating-Apps zeigen dir: „Es gibt noch 1000 andere.“
- Jobbörsen: „Komm weiter – da draußen wartet was Besseres.“
- Social Media: Vergleich ohne Ende.
Diese Überfülle führt paradoxerweise nicht zu mehr Verbindung, sondern zu mehr Vermeidungsverhalten:
- „Ich leg mich lieber nicht fest – wer weiß, was noch kommt.“
- „Ich sag lieber nicht klar Ja – dann muss ich mich auch nicht erklären, wenn ich später ein Nein spüre.“
- „Ich schiebe die Entscheidung auf – und den anderen gleich mit.“
Aber:
Wer alles offen hält, hält am Ende niemanden wirklich.
Wenn Unverbindlichkeit wie Respektlosigkeit wirkt
Ein „Vielleicht sehen wir uns“ kann wie ein emotionaler Wartesaal wirken. Ich halte mir Zeit frei, bleibe erreichbar – und am Ende passiert vielleicht gar nichts.
Es fühlt sich an, als sei ich nur Plan B, ein Notfallplan, falls nichts Besseres kommt.
Dieses Hinhalten raubt Energie und erzeugt unterschwellig das Gefühl: Meine Zeit ist weniger wert.
„Vielleicht“ ist wie am Bahnhof zu sitzen und auf ein Schiff zu warten
So fühlt sich dieses Schweben für mich an:
Ich sitze mit gepacktem Koffer auf einer Bank. Züge fahren ein und aus, nach einem festen Fahrplan – aber keiner davon ist für mich.
Ich warte auf ein Schiff, doch „Vielleicht“ liegt längst in einem anderen Hafen vor Anker.
Und während ich hier sitze und hoffe, dass sich doch noch etwas bewegt, zieht meine Energie davon.
Verbindlichkeit ist Wertschätzung
Ein klares „Ja“ oder auch ein ehrliches „Nein, das klappt nicht“ gibt Halt.
Verbindlichkeit bedeutet nicht, sich einzuschränken.
Es bedeutet:
„Du bist mir wichtig genug, um mich auf dich einzulassen.“
Wenn jemand nicht bereit ist, das zu geben, ist es oft besser, das zu wissen, als sich im „Vielleicht“ zu verlieren.
Was kannst du für dich selbst mitnehmen?
- Erkennst du dich selbst in solchen Aussagen wieder?
Wie oft sagst du „Vielleicht“ oder „Mal schauen“, um dich nicht festlegen zu müssen? - Warum fällt es dir schwer, ein klares Ja oder Nein zu geben?
Steckt Angst vor falschen Entscheidungen dahinter? - Hältst du selbst andere unbewusst im Wartesaal fest?
- Wie würde sich dein Leben verändern, wenn du klarer kommunizierst?
Meine Erkenntnis
Für mich klingen diese wagen Aussagen wie:
„Halte dich mal bereit – aber zähl nicht wirklich mit mir.“
Es ist ein Nicht-Festlegen, das auf andere bequem wirken mag, für mich aber eine Einladung zum Warten ist.
Und Warten ohne Verbindlichkeit ist wie ein inneres Stand-by, das Kraft kostet.
Ich fühle mich in solchen Momenten nicht ernst genommen und wenn ich solche Sätze benutze nehme ich mein Gegenüber ebenfalls nicht ernst.
Es fühlt sich an, als sei ich ein Lückenfüller, ein Plan B.
Als würde mein Zeitplan, mein Wunsch nach Klarheit und Begegnung nicht zählen.
Und ja – da schwingt Respektlosigkeit mit.
Denn Respekt zeigt sich auch in der Art, wie wir mit der Zeit und den Erwartungen anderer umgehen.
Verbindlichkeit heißt für mich nicht Unfreiheit –
sondern: Du bist mir wichtig genug, um mich auf dich einzulassen.
Um zu sagen: Dienstag, 17 Uhr.
Oder auch: Es tut mir leid, das wird nichts.
Ich habe gelernt, dass Klarheit ein Geschenk ist.
Auch ein ehrliches „Ich habe gerade keinen Kopf für ein Treffen“ ist wertvoller als ein vages „Vielleicht irgendwann“.